Diskussion
In diesem Fallbericht wird ein Patient beschrieben, der sich mit einer akut einsetzenden, rasch fortschreitenden Polyradikuloneuropathie vorstellte, die nur die unteren Gliedmaßen betraf, ohne Anzeichen einer Hirnnervenfunktionsstörung oder einer Beteiligung der Schließmuskeln. Das Fehlen einer Hirnnervenbeteiligung, eine normale Liquoruntersuchung und das Vorhandensein einer auffälligen sensorischen Beteiligung bei elektrophysiologischen Untersuchungen machten die Diagnose eines Guillain-Barré-Syndroms unwahrscheinlich.8 Daraufhin wurde eine thyreotoxische periodische Paralyse (TPP) in Betracht gezogen, da die klinischen Anzeichen des Patienten mit einer Hyperthyreose korrelierten. Patienten mit TPP zeigen in der Regel Muskelkrämpfe, wobei die unteren Extremitäten häufiger betroffen sind als die oberen, und zwar in einem Muster von proximal nach distal.9 Die Anfälle können Stunden bis Tage andauern und bessern sich bei Behandlung der Thyreotoxikose. Bei der Mehrzahl der Patienten mit TPP gibt es jedoch auslösende Faktoren wie eine kohlenhydratreiche Ernährung oder Muskelkühlung unmittelbar nach dem Sport; außerdem wird häufig eine Hypokaliämie (Serumkaliumspiegel von <2,5 μmol/L) festgestellt, zusammen mit niedrigen TSH-Spiegeln und zusammengesetzten motorischen Aktionspotentialen mit reduzierter Amplitude während der klinischen Anfälle.9 Solche Merkmale lagen im vorliegenden Fall nicht vor; die Serumkaliumwerte des Patienten waren normal und seine Nervenleitungsbefunde waren nicht typisch für TPP, obwohl keine Provokationstests durchgeführt wurden. Schließlich bestätigte das allmähliche klinische und elektrophysiologische Ansprechen des Patienten auf eine antithyreote Behandlung die Diagnose einer Neuropathie.
Gängige Ursachen für eine akute Polyneuropathie neben einer Hyperthyreose sind in Tabelle 2 aufgeführt.3,5,8 Im vorliegenden Fall wurden diese Ursachen in Betracht gezogen, aber schließlich aufgrund verschiedener Untersuchungen ausgeschlossen. Eine Schwermetallvergiftung wurde aufgrund der Krankengeschichte, der elektrophysiologischen Befunde und der raschen Genesung des Patienten als unwahrscheinlich erachtet. Spinale epidurale Abszesse, Blutungen in das Rückenmark und Verletzungen des Rückenmarks wurden ebenfalls durch MRT ausgeschlossen. Eine akute porphyrische Neuropathie ist in dieser geografischen Region der Welt selten und eine Neurosarkoidose noch seltener.5 Eine Zeckenlähmung wurde bei dem vorliegenden Patienten ebenfalls nicht in Betracht gezogen, da diese Krankheit nach bestem Wissen der Autoren noch nie in Oman aufgetreten ist. Eine akute polyneuropathieähnliche Erkrankung könnte jedoch auch ein Präsentationsmerkmal der Poliomyelitis, des Botulismus, der Critical-Illness-Neuromyopathie und der Diphtherie sein.5,8 Darüber hinaus ist ein Vorderhornzellsyndrom sekundär zur Hyperthyreose (d. h. Schilddrüsenamyotrophie) möglich.3
Tabelle 2
Weitere Ursachen einer akuten Polyneuropathie neben einer Hyperthyreose3,5,8
Periodische Lähmungen (d.z. B. Hypokaliämie)
Botulismus
Kollagene Gefäßerkrankungen (z.SLE/PAN)
Bleivergiftung
Poliomyelitis
Kritische Neuromyopathie
CMV-, EBV- und Hepatitis-B-Infektionen
Diphtherie
Retrovirale Infektionen (d. h. HIV)
Neurosarkoidose
Zeckenlähmung
Rückenmarksblutungen/epidurale Abszesse
SLE = systemischer Lupus erythematodes; PAN = Polyarteritis nodosa; CMV = Cytomegalovirus; EBV = Epstein-Barr Virus.
Die Assoziation einer Thyreotoxikose mit einer akuten peripheren Neuropathie, die ein Guillain-Barré-Syndrom simuliert, wurde in früheren Forschungsarbeiten berichtet; darüber hinaus wurde bei einer Hyperthyreose auch über eine chronische subklinische periphere Neuropathie berichtet, wenn auch weniger häufig als bei einer Hypothyreose.10,11 Paraplegie im Zusammenhang mit schwerer Hyperthyreose wurde erstmals 1889 von Charcot beschrieben.12 Der Zusammenhang zwischen Hyperthyreose und akuter Polyneuropathie wurde jedoch in Frage gestellt, da man davon ausging, dass die Muskelschwäche eher auf einen myopathischen Prozess als auf eine Polyneuropathie zurückzuführen war.5 Pandit et al. berichteten jedoch über einen Patienten, bei dem elektronenmikroskopische Untersuchungen von Biopsien des Suralnervs Veränderungen ergaben, die mit einer Thyreotoxikose übereinstimmten, sich aber vom Guillain-Barré-Syndrom unterschieden.6 Andere Forscher kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass die thyreotoxische Myopathie eigentlich eine neuropathische Störung im Frühstadium der Denervierung ist.3 In einer prospektiven Studie an Hyperthyreose-Patienten wurde festgestellt, dass 14 % Taubheitsgefühle und Parästhesien und 19 % Anzeichen von distalen sensorischen Störungen in den Gliedmaßen mit depressiven Knöchelzuckungen aufwiesen.13 Elektrophysiologische Befunde bestätigten bei 24 % eine vorwiegend sensorische axonale Neuropathie; außerdem verschwanden die sensorischen Symptome bei Behandlung der Hyperthyreose innerhalb von sieben Monaten.13 Überraschenderweise wurde über eine akute thyreotoxische Neuropathie bei Kindern nicht berichtet.14
Die Pathogenese der Neuropathie bei Hyperthyreose ist immer noch unklar. Es wurde postuliert, dass sie entweder eine direkte Auswirkung eines Überschusses an Schilddrüsenhormonen ist, immunvermittelt oder auf einen hypermetabolischen Zustand zurückzuführen ist, der den Nerven wichtige Nährstoffe entzieht.3 Ein hoher Verdachtsindex auf eine Schilddrüsenfehlfunktion ist von größter Bedeutung, wenn ein Patient mit akuter Polyneuropathie untersucht wird, selbst wenn keine offene Thyromegalie oder eine Vorgeschichte von Schilddrüsenerkrankungen vorliegt. Schilddrüsenfunktionstests sollten daher in die Routineuntersuchung von Fällen akuter Polyneuropathie einbezogen werden.