Auf diesem klassischen Album sprach der gequälte Poet des R&B unter anderem Rassismus, Ökologie, Krieg und Drogenmissbrauch an. Gaye war in dieser Hinsicht kaum ein Ausreißer. Um ihn herum übernahmen andere Soul- und R&B-Künstler den Staffelstab des Rock, indem sie in ihrer Musik neue und noch dringlichere Anliegen ansprachen. (Wirtschaftliche Ungleichheit war ein wichtiges Thema: Ende der Sechzigerjahre lebten vier von zehn schwarzen Amerikanern unterhalb der Armutsgrenze.) Hier ist ein Überblick darüber, wie schwarze Musik das sehr reale und zunehmend verzweifelte amerikanische Gemetzel jener Zeit thematisierte.
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Stevie Wonder, „Living for the City“ (1973)
Beginnend mit diesen sanften, aber ahnungsvollen E-Piano-Akkorden, ist Wonders Story-Song der Stoff, aus dem Protestmusik der alten Schule ist: Ein Junge aus Mississippi, der zu einer Familie gehört, die im Elend lebt, wagt sich in den Großstadtdschungel, nur um für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, im Gefängnis zu landen. Durch die Vertonung mit düsterem, eindringlichem Funk, mit filmischen Dialogen und einem Spritzer jubelnder Synthies hat Wonder das aktuelle Genre nach seinem Vorbild neu gestaltet. Schauen Sie sich unbedingt die siebenminütige Originalversion auf Innervisions an, die damit endet, dass Wonder die Erzählung fallen lässt und sich direkt an den Hörer wendet: „
Curtis Mayfield, „Future Shock“ (1973)
Von dem Moment an, als er die Impressions verließ und sich auf eigene Faust aufmachte, thematisierte Mayfield sowohl innerstädtische Alpträume („Pusherman“) als auch Sehnsüchte („Miss Black America“). Als ehrgeiziger Plattenproduzent verpackte er diese Gefühle oft in üppig arrangierten, orchestralen Soul. Aber auf diesem Stück von Back to the World kann keine Menge an Streichern und Bläsern den Schmerz in Mayfields Stimme verbergen, wenn er von Suppenlinien und „Dope on the Street“ spricht. Sein doppelspuriges Falsett und die Wah-Wah-Gitarre sind ein bittersüßer Hilferuf in einer zunehmend verzweifelten Landschaft. Eines seiner Couplets – „We got to stop all men/From messing up the land/When won’t we understand/This is our last and only chance“ – deutet in weiser Voraussicht auch die Zerstörung durch den Klimawandel an.
Marvin Gaye, „Cloud Nine“ (1969)
Zwei Jahre vor What’s Going On testete Gaye das soziale Bewusstsein mit dieser Version des Psychedelic-Soul-Hits der Temptations aus dem Jahr zuvor. Gaye machte sich den Song nicht ganz zu eigen, aber er fühlte sich eindeutig mit den Bildern einer Großfamilie verbunden, die in einem Slum aufwächst, wenig zu essen hat und kaum einen Ausweg weiß. Die Coverversion fühlt sich nun wie ein wichtiger Schritt auf dem Weg an, seine eigenen Gefühle auf What’s Going On auszudrücken.
The O’Jays, „For the Love of Money“ (1973)
Anthony Jacksons blubbernde Unterwasser-Basslinie, eine der am ehesten wiedererkennbaren Hooks dieser Ära, beschwört gehobene Diskotheken und den damit verbundenen wohlhabenden Lebensstil. In den nächsten sieben Minuten greifen die O’Jays diese Stimmung auf, indem sie den bösen Einfluss der finanziellen Gier anprangern („People will steal from their mother/People will rob their own brother“). Während das Trio singt – manchmal klingt es wie ein Prediger, der ein Thema rippt – lassen die Produzenten Kenny Gamble und Leon Huff den Groove über sieben sumpfige Minuten hinweg nie nachlassen: Man kann tanzen und gleichzeitig den Kapitalismus anprangern.
Bill Withers, „Another Day to Run“ (1972)
Schärfer und musikalisch komplexer als seine Glanzstücke „Lean on Me“ und „Ain’t No Sunshine“, stellt dieser Withers-Song die Müdigkeit in seiner Stimme in einen völlig neuen, aufgewühlten Kontext. Während er das Porträt einer verwüsteten Gesellschaft zeichnet („Pretty ladies stand in line waiting for inspection/Ragged old men drinking wine trying to drown rejection“), wird Withers mit jeder Strophe entrüsteter und angespannter. Sogar die Wah-Wah-Gitarren (die für dieses Genre so wichtig sind wie die Mandoline für Bluegrass) klingen im Laufe des Liedes immer instabiler. „Another Day to Run“ mag schräg sein, aber es findet nichts, nicht einmal Hoffnung, worauf es sich stützen könnte.
Billy Paul, „Am I Black Enough for You“ (1972)
Pauls wegweisender Hit war sein Betrugssong „Me and Mrs. Jones“, ein elegantes Stück Supper-Club-Soul, das so verführerisch war wie sein Erzähler. Aber der Song bereitete niemanden auf seinen treibenden und selbstbewussten Nachfolger vor. „Am I Black Enough for You“ war laut und stolz, mit einer positiven und proaktiven Botschaft, die so unerbittlich war wie die Produktion von Gamble und Huff, die die Tore stürmten. Der Groove erinnert an Stevie Wonders „Superstition“ – geht aber auch eigene Wege.
Gladys Knight and the Pips, „This Child Needs Its Father“ (1973)
Knight machte sich einen Namen mit einer Reihe ergreifender, oft trauriger Singles – „Midnight Train to Georgia“, „Neither One of Us (Wants to Be the First to Say Goodbye)“ – die das Beste aus ihrer warmen, körnigen Stimme machten. Knight klingt verletzter und verzweifelter, als sie es normalerweise tun würde, und schlüpft in die Rolle einer alleinerziehenden Mutter, die ihren Partner anfleht, zurückzukommen: „Ich versuche, mein Bestes zu geben, aber ich weigere mich, dieses Baby einen anderen Mann halten zu lassen“, klagt sie. Der Song greift die steigende Zahl der Alleinerziehenden in den siebziger Jahren auf, eine Zahl, die sich bis Anfang der achtziger Jahre verdoppeln sollte.
Ohio Players, „What’s Going On“ (1974)
Ein Zeichen dafür, wie sehr Gayes Song den Pop gleich nach seiner Veröffentlichung beeinflusste, war, dass die Ohio Players – normalerweise für laszive Funk-Hits wie „Fire“ und „Love Rollercoaster“ zuständig – ein Jahr nach Gayes Song eine warme, ehrfurchtsvolle Coverversion des Songs herausbrachten. Während Gayes Version persönlich und intim wirkte, verwandelten die Ohio Players den Song in eine mehrstimmige Erklärung des Gemeinschaftssinns, die auch den Backbeat stärker in den Vordergrund rückte. Ihr „What’s Going On“ war eine Hommage sowohl an Gaye als auch an die heilende Kraft der Musik, vor allem zu jener Zeit.
Nina Simone, „The Pusher“ (1974)
Klassik-Rockfans kennen diesen Song, der vom Songwriter und Schauspieler Hoyt Axton (Gremlins) geschrieben wurde, aus der Version von Steppenwolf, die während der Eröffnungsszene des Drogendeals in Easy Rider gespielt wurde. Simone verlangsamte den Song auf ein wütendes Köcheln und spuckte die Worte aus, wodurch die Abrechnung mit einem harten Drogenlieferanten noch bissiger wurde. Simone interpretierte in dieser Zeit eine Reihe von Pop- und Rocksongs, von den Beatles über Dylan bis zu den Bee Gees, aber nur wenige waren so selbstgerecht und empört wie dieser Song, vor allem der Moment, in dem sie jammert: „The pusher is a monsta!“
Diana Ross, „Strange Fruit“ (1972)
In ihrer ersten Hauptrolle, als Billie Holiday in Lady Sings the Blues, machte Ross eine gute Figur als Schauspielerin und als Interpretin von Holidays jazzbetontem Material. Als der Film in die Kinos kam, waren die Leute schon dabei, „Strange Fruit“ zu vergessen, den erschütternden Song über einen Lynchmord im Süden, den Holiday in den späten Dreißigern zu einem neuen amerikanischen Klassiker gemacht hatte. Ross‘ Cover stellt das unheimlich ruhige Arrangement der Originalaufnahme wieder her, und Ross stößt aus ihrer Komfortzone heraus, indem sie sich an Holidays schwungvolle Phrasierung heranwagt.
Sly and the Family Stone, „Babies Makin‘ Babies“ (1973)
Mehr ein Jam als eine ausgedehnte sozioökonomische Abhandlung über ungewollte Teenager-Schwangerschaften, findet man in diesem Stück von Fresh, Slys letztem großen Album, vor allem, dass er textlich auf dem Titelsatz herumreitet. Aber es ist immer noch ein Genuss, Sly und seine Band – zu der noch sein Bruder Freddie an der Gitarre, seine Schwester Rose an den Keyboards und die Trompeterin Cynthia Robinson gehörten – beim Vamping zu hören, und das unruhige Gefühl des Songs spiegelt die Stimmung der damaligen Zeit wider.
The Spinners, „Ghetto Child“ (1973)
Diese Pop-Soul-Meister aus Michigan waren im Allgemeinen nicht für sozialbewusste Songs bekannt, aber mit dieser Geschichte über einen jugendlichen Ausreißer, der eine Stadt „voller Engstirnigkeit und Hass“ verlässt, aber nie ganz ein neues Zuhause findet, machten sie eine Ausnahme. Produzent Thom Bell, einer der führenden Vertreter des Philly-Soul-Sounds, sorgt für den gewohnten, sanften Bounce. So turbulent die Geschichte auch sein mag, der Song – und die Co-Lead-Sänger Philippé Wynne und Henry Fambrough – gleiten mühelos über stürmische Gewässer.