Reziprozität, Norm der

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Soziale Normen beziehen sich auf die Regeln und Erwartungen darüber, wie sich die Menschen in einer Gruppe oder Kultur verhalten sollten, und beziehen sich auf allgemein akzeptierte Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen, die von den Menschen als richtig oder angemessen anerkannt werden. Es lassen sich verschiedene Normen unterscheiden: unter anderem die Norm der sozialen Verantwortung, die vorschreibt, dass Menschen anderen, die von ihnen abhängig sind, helfen sollten; die Norm der sozialen Gerechtigkeit oder Fairness, die sich auf die gerechte Verteilung von Ressourcen bezieht; und die Norm der sozialen Verpflichtung, die die gemeinsame Auffassung betrifft, dass Menschen ihre Vereinbarungen und Verpflichtungen einhalten sollten.

Der amerikanische Soziologe Alvin Gouldner (1960) war der erste, der die Existenz einer universellen, verallgemeinerten Norm der Gegenseitigkeit vorschlug. Er argumentierte, dass fast alle Gesellschaften irgendeine Form der Reziprozitätsnorm unterstützen und dass nur wenige Mitglieder davon ausgenommen sind – die ganz Jungen, die Kranken und die Alten. Die Norm regelt den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zwischen Menschen in ständigen Gruppen- oder Einzelbeziehungen, indem sie vorschreibt, dass Menschen denen helfen sollten, die ihnen geholfen haben, dass Menschen diejenigen nicht verletzen sollten, die ihnen geholfen haben, und dass legitime Strafen gegen diejenigen verhängt werden können, die die Gegenleistung nicht erbringen. Die Gegenseitigkeit erfordert also positive Reaktionen auf eine günstige Behandlung und negative Reaktionen auf eine ungünstige Behandlung. Die ausgetauschten Dinge können heteromorph sein, d. h. die Waren oder Dienstleistungen können konkret unterschiedlich, aber gleichwertig sein, so wie sie von den Tauschpartnern wahrgenommen werden. Oder die Dinge können homomorph sein, d. h. die Waren oder Dienstleistungen können ungefähr gleichwertig oder identisch sein. Neuere Entwicklungen deuten auf eine Unterstützung von Gouldners allgemeiner Aussage über die Universalität der Norm hin (Cosmides und Tooby 1992; Ridley 1997; Sober und Wilson 1998; für Primaten siehe De Waal, 1982, 1996).

Die Norm hat wichtige soziale Funktionen in laufenden Beziehungen. Sie erhöht die soziale Stabilität in sozialen Gruppen oder Systemen, und sie strukturiert und erhält die sozialen Beziehungen aufrecht. Darüber hinaus kann die Reziprozität als positiver, erleichternder Startmechanismus für die Entwicklung stabiler und dauerhafter sozialer Beziehungen in neu entstehenden Beziehungen fungieren. Wenn in einer sozialen Austauschbeziehung eine zukünftige Zeitperspektive vorgeschrieben ist, verhindert die Norm das Streben nach nicht-reziproken, egoistischen und/oder ausbeuterischen Handlungen seitens der Austauschpartner und fördert so die gegenseitige Zusammenarbeit zwischen ihnen. So erhöht die Zeitvariable die Stabilität des sozialen Systems durch Reziprozität (Axelrod 1984).

Reziprozität ist ein evolutionärer Faktor, der u.a. Altruismus unter Verwandten (kin selection; Hamilton 1964) und Nicht-Verwandten (reziproker Altruismus, Trivers 1971; Axelrod und Hamilton 1981) begünstigen kann. Als solcher ist er ein wichtiger Faktor im sozialen Austausch vieler Spezies, einschließlich des Menschen, und beeinflusst so unterschiedliche Verhaltensweisen wie Helfen (Lorenz 1966), Kooperation (Axelrod 1984), Befolgung von Forderungen im wirtschaftlichen Austausch (Cialdini 1993), Umgang mit Konflikten und damit verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen im organisatorischen Umfeld (Buunk und Schaufeli 1999) und Verhandeln und Verhandeln in Konflikten im internationalen Umfeld (Lindskold 1978).

Um die Bedeutung von Reziprozität in sozialen Beziehungen zu verdeutlichen, haben sich Mechanismen entwickelt, um Betrüger (d.h. Nicht-Reziprozierer oder Ausbeuter; siehe Cosmides und Tooby 1992; Wright 1994) zu erkennen. Darüber hinaus hat die Forschung zur negativen Reziprozität eine starke Beziehung zwischen der Verletzung der Reziprozitätsnorm durch Betrüger und normdurchsetzenden, strafenden, aggressiven Handlungen gezeigt, die die lex talionis oder die „Auge-um-Auge“-Tendenz veranschaulichen. Diese Forschung umfasste Computersimulationen von Axelrod (1986: strafende Metanorm) und Boyd und Richerson (1992: moralistische Strategien), Untersuchungen an Primaten von Brosnan und De Waal (2003; Gleichheitsaversion) und neuropsychologische Studien an Menschen (z. B. De Quervain et al. 2004: altruistische Bestrafung). Die Ergebnisse all dieser Studien zeigten im Allgemeinen, dass (a) sich parallel zur Norm der Reziprozität in sozialen Austauschbeziehungen sekundäre, strafende Normen entwickelt haben, die die legitime, aggressive Durchsetzung der ersteren bei verschiedenen Spezies diktieren, und (b) dass wirksame Vergeltung gegen Übertreter oder Betrüger zufriedenstellender sein kann als unwirksame Vergeltung.

Ein weit verbreitetes Phänomen in den Beziehungen zwischen den Gruppen ist die Bevorzugung der eigenen Gruppe oder die Voreingenommenheit gegenüber der eigenen Gruppe: Individuen bewerten ihre eigene Gruppe (oder die eigene Gruppe) und deren Mitglieder auf relevanten Dimensionen günstiger als eine Außengruppe und deren Mitglieder, oder sie geben mehr von einer geschätzten Ressource (Geld) an Mitglieder der eigenen Gruppe als an Mitglieder der Außengruppe ab. Viele sozialpsychologische Theorien, wie z. B. die Theorie der sozialen Identität (Tajfel und Turner 1986) und die Selbstkategorisierungstheorie (z. B. Hogg 1992), dienen als Haupterklärung für dieses Phänomen. Neuere Entwicklungen deuten jedoch darauf hin, dass auch gruppeninterne Reziprozität zumindest teilweise für dieses allgegenwärtige gruppenübergreifende Verhalten verantwortlich sein kann (Gaertner und Insko 2000; Rabbie und Lodewijkx 1994; Stroebe, Lodewijkx und Spears 2005).

Siehe auch Altruismus; Kollektives Handeln; Kommunitarismus; Kultur; Evolutionspsychologie; Austauschbarkeit; Identität, sozial; Normen; Bestrafung; Scham; Soziale Austauschtheorie; Sozialpsychologie; Vertrauen

BIBLIOGRAPHIE

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Hein F. M. Lodewijkx

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